Kurzprosa






Hängt den Alten

Untergrundkämpfer halten mich in einem umzäunten Bereich gefangen. Ein Bewacher, ein lustiger Mann, zeigt mir aber, dass ich auch weggehen kann. Er macht es mir vor und hüpft über das Gartentürchen.

Es ist noch dunkel. Wenn es heller wird, soll der Verräter aufgehängt werden. Ich entschließe mich, dabei zuzuschauen. Denn so etwas habe ich noch nie erlebt. Außerdem empfinde ich Befriedigung bei dem Gedanken an die Hinrichtung dieses Verräters. Der Galgen steht schon: ein Querbalken auf zwei Holzpfählen.
Der alte Mann wird nun herausgeführt. Er soll mit Stricken am Galgen hochgezogen werden. Er ist ganz ruhig. Er hat einen längeren, dünnen und spitzen Kinnbart. Sehr groß ist er nicht. Ich kann in seine alten Augen sehen. Er macht einen eher unscheinbaren Eindruck.
Jetzt wird er noch ermahnt, sich oben, am Galgen, ruhig zu verhalten, damit er nicht mit diesem zusammen umstürzt. Man beginnt, ihn hoch zu ziehen.

Plötzlich intoniert er mit hoher, aber kräftiger Stimme ein Kirchenlied.
Ich denke mir, dass er vielleicht gar kein Verräter ist. Dazu ist er zu unbedeutend. Irgendein Hirte.
Die Männer zögern nun, ihn auf zu hängen.


Die namenlose Kathedrale

Wir halten in einer stillen, schmalen Straße. Auf der anderen Seite ist ein unscheinbares Kirchenportal. Meine beiden Begleiter wollen die Kirche besichtigen. Sie steigen aus. Ich habe keine Lust, aber ich erhebe mich von meinem Rücksitz und folge ihnen. Das Auto fuhr ich vor Jahrzehnten. Es ist längst verschrottet. Einer meiner Begleiter ist ein Toter, zu seinen Lebzeiten redselig. Ich fand ihn ganz sympathisch. Damals. Der andere, er hat auch chauffiert, ist ein Freund. Ungern sage ich, dass der Umgang mit ihm für mich anstrengend ist. So sollte es mit einem Freund nicht sein.

Der Tote und der anstrengende Freund gehen durch eine Pforte rechts in die Kirche. Ich betrete sie durch den Eingang links und sehe fast unmittelbar vor mir einen Priester in der Albe, der an einem Altar hantiert. Soll ich ihn stören? Ich bleibe am Eingang stehen. Meine zwei Begleiter sehe ich nicht mehr.

Ich stehe in der Kirche auf einer geräumigen Empore; sie wird von Säulen getragen, die sich nach oben fortsetzen. Im Halbdunkel, nicht weit von mir entfernt, erblicke ich die Frau, die mich verlassen hat. Ich weiß nicht, ob mir das gleichgültig ist. Wir schauen mit anderen Leuten zusammen auf eine sehr große, leere Fläche, die mit sehr großen, weißen Steinplatten ausgelegt ist.

Dort unten wird ein Theaterstück von jungen Christen aufgeführt. Es geht um ein Verhör wegen ihres Glaubens, verbunden mit Repressalien. Eine Folter besteht darin, dass ein junges Mädchen, auf seinem Stuhl sitzend, von einem jungen Mann blitzschnell über die spiegelglatte Steinfläche geschleudert wird. Der Stuhl saust mit ihr dahin wie ein Schlitten. Der junge Mann schießt sie dann wieder an den Tisch zurück, an dem die Verhöre stattfinden. Ich gehe an den Rand der Empore, die keine Brüstung hat, und bewege mich sofort wieder einige Schritte rückwärts, denn es geht sehr tief hinunter. Ich befürchte einen Sturz. Die Frau, die mich verlassen hat, bewegt sich nicht und bleibt zwischen den Säulen stehen.

Der Pfarrer führt mich durch seine Kirche, eine riesige Kathedrale, die mit je einer Empore an den Enden der Längsachse abschließt. die Kathedrale ist kahl und leer. Es gibt keinen Altar, keine Statuen oder Bilder oder religiöse Symbole. Der Baustil ist neugotisch. Die Wände sind grau, die großen Fenster verschmutzt. Der Pfarrer zeigt mir die dunklen Staubstreifen an den Wänden, die von der Zentralheizung herrühren. Er will das so belassen, damit die Kathedrale alt wirkt. Er hat einen graumelierten Kinnbart und ist kräftig gebaut.

Ich möchte hinaus, finde aber den Ausgang nicht. Ich gehe allein durch ein niedriges, schmuckloses Kellergewölbe. Dieser Teil der Kirche ist aus dem Felsen herausgeschlagen. Hinter mir nähert sich eine Unbekannte. Sie will ebenfalls die Kirche verlassen, aber die Gittertür ist verschlossen. Was der Frau als ungewöhnlich erscheint.

Irgendwann finde ich einen Ausgang, jedoch nicht den, vor dem unser Auto parkt. Ich kann nicht länger warten und gehe in ein Hotel. Wie sollen mich dort meine Gefährten finden?

Ich sitze in einem ungemütlichen Zimmer und versuche herauszufinden, wie diese Kirche heißt. Es ist eine Wallfahrtskirche in einem kleineren Ort in Deutschland. Sogar Franzosen pilgern dort hin. Die Stempel mit dem Namen der Kirche auf großen Briefumschlägen sind so undeutlich, dass ich den Namen nicht entziffern kann.

Am nächsten Morgen fahren wir in einiger Entfernung an der Kathedrale vorbei. Ich sehe die grauen Stein- und Dachmassen. Daneben, aus dem Felsen gehauen, weiß leuchtende Wände mit kuppelähnlichen Dächern. - Mediterranes.

Vor mir, am Steuer des längst verschrotteten Autos, sitzt der anstrengende Freund, neben ihm der Tote. Dereinst war er redselig. Das ist eine seltsame Fahrt.


Wiedergeburt

Kürzlich, während dieses kühlen, verregneten Augusts, schleppte mich meine Freundin Uma auf das Erlanger Poetenfest. Im Schlosspark konnte man sonst bei schönem Wetter von einer Lesung zur anderen bummeln, ein bisschen mithören, ein bisschen mitdiskutieren. Diesmal fanden hier nur Regenschauer statt, die literarischen Berieselungen im Markgrafentheater und in der benachbarten Orangerie.
Es verschlug uns in einen Saal mit vielen freien Sitzplätzen. Eine Podiumsdiskussion war gerade im Gange, wobei mir nur Sigrid Löffler erinnerlich ist, dieselbe, die der böse Reich-Ranitzki, den ich sehr mag, in einer seiner Quartettsendungen zum Weinen gebracht hatte wegen ihrer Prüderie in literarischen, vielleicht auch in anderen Bereichen.
Es wurde hoch intellektuell und akustisch nicht immer verständlich hin- und hergequatscht über den großen Günter Grass, den bisher amtierenden, allerdings nun jäh von seiner Cathedra gestürzten Moralapostel der Nation. Ich langweilte mich auf meinem harten Sitzmöbel. Für mich ist die Sache klar. Er schwieg so lange über seine Jugendsünde, bis er den heiß begehrten Nobelpreis hatte. Dann, mit gebührendem zeitlichem Abstand, ließ er die SS-Sau raus oder, was ihn persönlich anbetraf, damals mit ca. 18 Lebensjahren, das SS-Ferkelchen.
Danach bestieg eine Dame, die von ihrem Namen her wahrscheinlich etwas mit dem gräflichen Geschlecht derer von Zeppelin zu tun hat, das Podium. Sie las aus ihrem neuesten Buch. Es geht da um ihre Erlebnisse als Flüchtlingskind auf der fränkischen Burg ihres Großvaters kurz vor und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Ich war zu der Zeit ein ostpreußisches Flüchtlingskind und habe darüber Einiges zu Papier gebracht, was in meiner Schublade ruht. Ich hätte das gut und gern in jenem Saal vorlesen können, aber es bekümmert mich nicht weiter, im Schatten mehr oder weniger großer, zeitgenössischer Meisterinnen und Meister zu leben. Frau Zeppelin las einigermaßen verständlich vor. Man musste die Lautstärke des Mikrofons mehrmals auf ihre Dichterinnenstimme einstellen.
Auch das ging vorüber.
Wenig überzeugt war anscheinend der nun folgende Autor von seinem Werk. Oder er kann nicht richtig lesen. Vielleicht verließ er sich auch, in seinem Fall zu Unrecht, auf das Wort unseres großen Goethe: "Es trägt Verstand und rechter Sinn mit wenig Kunst sich selber vor." Jedenfalls nuschelte dieser da oben trotz Mikrofon irgend etwas Unverständliches vor sich hin. Ich verstand von seinem Vortrag, meine eventuellen Leserinnen und Leser mögen mir das verzeihen, nur das wenig originelle Wort "Scheiße".
Nunmehr konnte ich das unwiderstehliche Bedürfnis nicht mehr länger unterdrücken, an diesem verregneten Sonntagnachmittag noch etwas Sinnvolles oder wenigstens Angenehmes zu tun. Ich schleppte daher meinerseits die liebe Uma zum hinteren Saalausgang und ins Freie. Sie protestierte auf ihre feine, englische Art: "Oh deär!" - In England sagt man nicht einfach "oh dier", wie ich das einst in der Schule lernte. - Also: "O deär, die Highlights werden wir jetzt sicher versäumen, you are very impatient today!" So sprach sie, zum Teil in einem very British English, zum Teil in einem Deutsch mit fast unmerklichem, aber nicht zu überhörendem Oxfordakzent. Normaler Weise käme sich jeder so vornehm Angeredete ziemlich primitiv vor. Not me, because she has been my fan for many years. Ich weiß nicht einmal warum. Aber es gefällt mir natürlich.
Sie ließ sich dennoch willig in das unmittelbar benachbarte, geräumige Caféhaus führen. Dieses war, im Vergleich zu dem Saale, geradezu überfüllt zu nennen. Sogar unter den Sonnenschirmen draußen saßen die zeitgenössischen debattierenden Literaturbeflissenen, einiger Maßen geschützt vor dem Regen, bei Kaffee und Kuchen, Bier und Wein, viel Schall und Rauch um sich verbreitend. Im ersten Stock, dessen Edward Hopper - Atmosphäre mir sehr sympathisch war, gab es freie Plätze. Uma bestellte Green Tea and some cake. Ich war mit einem Cappuccino and some mineral water zufrieden.
Zunächst grübelte ich so vor mich hin. Worauf Uma schließlich sagte: "A penny for your thoughts." So wird man als Poet natürlich nie sein Auskommen finden. Aber ich erklärte mich bereit, im Anschluss an die vor wenigen Minuten empfangene Inspiration ihr eine kleine Geschichte über - Scheiße zu erzählen. "Oh no! Nonono! Oh you never!"
Ich machte ihr das Angebot, statt dieses ordinären deutschen Ausdrucks das vergleichsweise vornehm klingende "shit" in die Geschichte einzuführen. Unsere ausdrucksarme deutsche Sprache existiert heutzutage ja nur noch auf Grund der vielen Anglizismen. Hier lehnte sie noch heftiger ab. Es war für sie anscheinend painful, dass es in ihrem geliebten English ein solches Wort überhaupt gibt. Ich sollte vielmehr mein stilistisches Geschick beweisen, diesen Ausdruck vermeiden und ihn vornehm und zurückhaltend umschreiben.
Na gut, eine echte Herausforderung! Ich empfahl Uma, sich meine Geschichte als Gemälde mit intensiver Farbgebung vorzustellen.
Trotz all dem Ungemach, das ich ihr gerade angetan hatte, blickte sie mich, ihrem Namen Ehre machend, huldvoll an. Denn Uma, es handelt sich um die Inkarnation einer Hindugöttin, heisst soviel wie "die Gnadenreiche".
"Wir malen also zunächst den ziemlich dunklen Hintergrund", sagte ich. "Aber der background ist nicht von dieser darkness dominiert, sondern von mehreren steil aufsteigenden, schmalen, spitz zulaufenden Zungen oder Flammen, leicht schräg nach rechts gerichtet, sich einander im Aufsteigen berührend, aber ohne Bewegung, starr. Farbe: ein leuchtendes Blau.
And now the foreground on the left hand side! Mit langgezogenen Pinselstrichen entstehen ungefähr im rechten Winkel zum Hintergrund mehrere Bänke, einem Chorgestühl vergleichbar, leicht ansteigend angeordnet. Die Pinselstriche sollten flott, aber doch exakt gezogen werden, und zwar in rötlich-brauner Farbe.
Now the figures. There are three men, maybe. Womöglich sind die drei auch nur eine einzige Person, was ich ganz stark vermute. Allerdings lässt sich das hier mit malerischen Mitteln kaum darstellen.
In einer der unteren Bänke, lonesome and deserted - was durch die Länge der leeren Bank noch unterstrichen wird, im wahrsten Sinn des Wortes, denn wir arbeiten ja an einem Gemälde - sitzt eine Gestalt, von einer hellbraunen Masse übergossen, die aus allen Körperöffnungen und Poren quillt, Gesichtszüge sind kaum erkennbar. Wir müssen hier als Maler artistisches Geschick zeigen, denn die hellbraune Masse ist nicht starr wie die Flammenzungen im Hintergrund, sondern sie fließt träge an der Gestalt herab. Dieses hellbraune Fließen und Triefen, diese stete Bewegung, muss deutlich erkennbar sein, was mit Ölfarben durchaus erreichbar ist. Ansonsten: Pictures don't stink! Man denke an den unangenehmen olfaktorischen Aspekt!
Now the second figure. Sie sitzt in der letzten Bank im Rücken des hellbraun Triefenden, in ein weites Gewand gehüllt, das Gesicht vom Betrachter abgewandt, der Kopf konturenhaft unter dem Stoff sich abzeichnend. The colour: absolutely black. Wir brauchen auf unserer Palette nicht zu mixen. Wir können einfach das ungemischte, schwärzeste Schwarz verwenden, das wir haben. Halt! Den Faltenwurf des Stoffes müssen wir heraus- oder hineinarbeiten, also doch ein leicht changierendes Schwarz, aber die Falten ziehen sich ganz tief und schwarz nach innen, so, als ob es nur die schwarze Hülle gäbe und womöglich gar keinen Körper darunter.
Ist das der Schwarze Mann aus dem Kinderspiel? Oder der Schwarze Mönch aus dem Krimi? Nein, der da hat etwas viel Unheimlicheres, etwas direkt Abgründiges. Es müssen dem Betrachter Schauer über den Rücken jagen, wenn er sich in den Anblick dieser Schwärze vertieft.
And now the centre of the foreground! Vielleicht auch der Mittelpunkt des Bildes? Der Betrachter kann sich selbst entscheiden.
Im mittleren Vordergrund muss ein mächtiger Tisch gepinselt werden, eine massive Holzplatte auf ebenso massiven Holzbeinen. Der Tisch ist leer und blank. Farbe: ein erdiges Braun. Darunter - ein Sarg, auch in Braun, aber eine Brauntönung, that is very difficult to mix correctly. Der Sarg ist zwar braun, aber dieses Braun ist ein offenes, dem Farbton fehlt das Endgültige.
Das Kopfende des Sargdeckels ist leicht angehoben. Ein bleiches Gesicht starrt heraus. Der Betrachter muss in dem Gesicht Beklemmung und Angst erkennen, aber nicht gerade Panik. Keinesfalls darf jedoch der Eindruck entstehen, dass die Gestalt dort den Deckel heben und aus ihrem engen Gefängnis herauskriechen wird. Nein, es muss völlig eindeutig sein: Der Sargdeckel wird sich alsobald schließen, der darunter Liegende muss sich seinem Schicksal ergeben. Die rechte Seite des Vordergrundes - vielleicht der Weg ins Freie - ist in darkness gehüllt, tiefes Dunkel. Das zur Vervollständigung des Gemäldes."
Uma zuliebe beendete ich die Geschichte von der Entstehung des Gemäldes mit einem englischen Satz, der sogar ein Shakespearsches Zitat ist: "And the rest is silence!"
Hier muss ich noch einflechten, dass der Name Uma eine Abkürzung für die Vornamen Uta Magdalena ist. Ich habe mir das schon vor langer Zeit so ausgedacht, und Uma hat es genehmigt. Es klingt nämlich so very British-Indian wie der allererste Verehrer Umas es war, vor langer Zeit. Uma selbst ist in der Wagnerstadt Bayreuth geboren und aufgewachsen, eine leidenschaftliche Englischlehrerin und sehr, sehr anglophil. Deshalb wunderte ich mich schon immer, dass sie mein Fan ist, denn ich spreche ein abominable English und mache mich gelegentlich über die von Uma hoch verehrten Royals lustig sowie über die guten Briten, die diesen ganzen Royal Circus freiwillig finanzieren.
Soweit der Einschub.
Nun aber endgültig zurück zum Präteritum or the past tense. Uma sagte: "What I like especially about your work, are the poems. But this story is really a nice one, it made my flesh creep. It's such an awful and very British story. - But you have forgotten one thing." "Oh", fragte ich bestürzt in meinem besten Nicht-Oxford-English, "what is it?" Und sie: "The title, my darling! You have forgotten the title. - The title is ‚Rebirth' ". - "Na klar, auf gut Deutsch: Wiedergeburt!" - "Yes, that's looking at it positively", sagte sie nachdenklich.


Dieser Blick

Zum ersten Mal sah ich sie bei Lisa oder, präziser gesagt, bei Lisas Partner Paul. Sein großer Gruppenraum ist nicht nur für therapeutische Zwecke sondern auch für das Vortragen von Gedichten mit musikalischer Begleitung gut geeignet.

Ich saß in diesem ziemlich großen Kreis. Lisa kannte ich kaum. Alle anderen Damen und die zwei Herren, nämlich Paul und einen blassen jungen Gitarrenspieler, kannte ich damals überhaupt nicht. Ich fühlte mich einsam, ausgesetzt und spürte wieder einmal, dass ich im Grunde ein schüchterner Mensch bin. Durch die zwei großen Fenster fiel das gelb orange Licht eines Wintersonntagmorgens herein. Weil Lisa so eine liebe ist und auch noch gewisse Bindungen an eine jenseitige Welt hat, unterstützten die himmlischen Mächte das Motto ihrer Matinee „Morgenduft gelb orange“. Sie und zwei Freundinnen – später sagte sie mir einmal streng, dass es gar nicht ihre Freundinnen wären – trugen Gedichte vor und tanzten im „Morgenduft gelb orange“. Der Gitarrist erwies sich als inniger, aber auch vitaler Spieler.
Ich verfluchte mich, dass ich zum Frühstück zu viel Kaffee getrunken hatte. Wahrscheinlich drückte es mich auch aus psychischen Gründen. Jedenfalls musste ich mich während der Lesung mehrmals erheben, eine Kreissehne abschreiten und dann, der Sekante folgend, in ein kleines Gemach eilen, sodann wieder zurück. So etwas und Ähnliches passiert nun mal schüchternen Menschen.
Die Pause in einem Nebenraum. Ich hielt mich an einem Glas Orangensaft fest, stand neben einem Tischchen, las etwas in den Gedichtbänden der Autorinnen und wußte, dass es jetzt Zeit zu einem Smalltalk war. Aber mit wem?
Nun, da stand schon jemand. Ein kleine Blonde in ärmellosem, schwarzem Rolli, was ich sexy fand. Ich erinnerte mich, sie hatte unter den gelb orangen Fenstern gesessen und sicherlich gesehen, wie ich die Kreissehne mehrmals abschritt. Ob ich auch Gedichte schriebe? Nun ja, einige hätte ich schon verfasst. Sie meinte, auf die Menge käme es nicht an. Sie stand dicht vor mir. Es war nicht viel Platz in dem Zimmer. Sie schaute mich von unten dringlich mit angenehm braunen Augen an.
Sie sei keine Lyrikerin sondern Sportlehrerin. „Das kann ich mir gut vorstellen“, dachte ich, „so stehst du auch vor mir, fest und stramm auf der Matte.“ Dann ging es weiter, gar kein Smalltalk, sondern ein richtiges Gespräch. Sie kann Menschen helfen, die zu ihr kommen. Manchmal sind sie in drei Tagen gesund. Ich fragte sie ein bisschen aus, und sie machte gerne mit. Ist sie also eine Heilerin? Nein, so sieht sie das nicht. Sie hilft den Hilfesuchenden, ihre eigene Kraft zu finden. Kommt ihre Kraft oder ihr Licht von Oben? Eigentlich nicht, es ist in ihr drin. Glaubt sie an Gott? An ein Leben nach dem Tod? An Wiedergeburt? Sie ist nicht dogmatisch. Sie lässt das alles irgendwie offen. Keine eifernde Esoterikerin oder Gottgesandte.
Ich konnte ganz locker mit ihr reden und wäre noch etwas weiter in sie vorgedrungen. Aber die Pause war um. Übrigens hat sie Familie, macht keine Reklame für ihre Helferarbeit, überlässt den Menschen, die zu ihr kommen, ob sie etwas spenden wollen.

Zum zweiten Mal sah ich sie im „Büchercafe“, in dem Lisa und ich zusammen eine Lesung hielten.
Ich ließ sie, so wie ich sie gerade geschildert habe, in einer Kurzgeschichte auftreten, in der Lisa die Protagonistin ist. In der Pause dann kam diese gewisse Blonde die Stufen zum Podium hinauf oder halb hinauf, mir entgegen. Diesmal in einem schwarzen, langen, ärmellosen Kleid, mit einem langen Schlitz auf der linken Rockseite. Sie legte ihre nackten Arme um mich, und bedankte sich.
Ich liebe es, auf äußere Details zu achten und mich an sie zu erinnern, von den nackten Armen in diesem Fall ganz zu schweigen. Schließlich ist es leichtsinnig, in unserem kurzen, schwierigen Leben diese scheinbaren Kleinigkeiten zu übersehen. Tot sind wir noch lange genug.
Später, als wir noch mit einigen Freunden zusammen saßen, ergab sich von selbst das Du. Sie heisst sinniger Weise Sibylla – wie die altgriechische Wahrsagerin und Prophetin.
Sibylla wollte mir schreiben, tat es aber nicht. Lisa erwähnte von Zeit zu Zeit, ihre Freundin habe dies immer noch vor.

Ich bin im Einklang mit den Neurowissenschaften von der Determination des Homo sapiens überzeugt. Das Verhalten dieser blonden Sibylla vertrug sich völlig mit dem Menschenbild, das ich von mir und allen meinen Artgenossen habe: Wir verhalten uns auf Grund unserer Gene und unserer Sozialisation so, wie wir uns verhalten müssen. Gewisse äußere und innere Umstände können dieses Verhalten natürlich ändern, je nach dem Zustand unserer limbischen Lust–Unlust–Scala, die ständig versucht, sich im Lustbereich einzupendeln. Was bekannter Maßen selten gelingt. Vor allem, weil die neuronalen Verschaltungen in unserem Gehirn so ihre Spielchen mit uns treiben, von denen wir keine Ahnung haben.
Freud nannte das die Macht des Unbewussten. Die moderne Hirnforschung spricht von der Herrschaft des limbischen Systems. Meines Erachtens behaupten nur völlig Ahnungslose, ihr Unbewusstes durchschaut zu haben und mit der Vernunft zu beherrschen. Gerade durch diese Behauptung entblößen sie sich völlig. Sie wissen aber tragischer Weise nicht, dass sie nackt sind.

Zum dritten Mal sah ich Sibylla mit den blonden, kurzfrisierten Haaren in einem Café, das sich eventuell „Marrakesch“ nennt.
Hier spätestens muss ich das Tempus wechseln und vom Präteritum ins unbedingte Präsens übergehen. Die Erinnerung als Gegenwart!
Es ist einer dieser Winternachmittage mit ein paar melancholischen Schneeresten und einer schräg stehenden Sonne, die sich weigert unterzugehen. Sie steht natürlich nicht schräg, weigert sich auch nicht unterzugehen. Alles nur Metaphern, die unserem Augenschein entsprechen. Determiniert ist das abendliche Verschwinden der Sonne sowieso wie der gesamte Kosmos und wir alle als unbedeutende Bestandteile desselben.
Ich betrete einen schmalen, lang gestreckten Raum. Tische, viele Stühle und Sitzkissen, zahlreiche Gäste. Ich werde von Lisa und ihrer Freundin begrüßt, einer ihrer Lyrikkolleginnen vom „Morgenduft gelb orange“. Inzwischen sind die Beiden nämlich befreundet. Sie werden zu zweit eine von Trommeln umrahmte Lesung ihrer Lyrik zu Gehör bringen und ihren Vortrag mit anmutigen Bewegungen begleiten. Das schicke ich voraus.
Auf der Suche nach einem Sitzplatz habe ich bereits beim Eintreten links unter den Fenstern meine Prophetin erspäht, die mit einer Reihe anderer Gäste an einem langen, schmalen Tisch sitzt. Diesmal bin ich nicht schüchtern, begrüße sie und ihre Nachbarinnen, lasse mich auf zwei übereinander gestapelten Sitzkissen nieder, dergestalt, dass ich Sibylla genau gegenüber sitze, und werde mit einem freundlichen Blick aus Augen mit angenehm brauner Farbtönung nach meinem Wohlergehen befragt.
Natürlich könnte ich sagen: „Danke, gut!“, mit sicherem, überzeugendem Tonfall. Aber dazu kann ich mich nicht durchringen, obwohl ich nicht ganz ohne schauspielerische Begabung bin. Statt dessen kommt aus meinem Mund ein langgezogenes: „Ach ja – eigentlich ganz gut.“ Dies ist für Sibylla der Anlass zu einem fröhlichen Lachen und der Bemerkung, ihr ginge es zur Zeit genau so. Das berührt mich. Ich will das Schicksal nicht vergrämen, betone daher den Luxus meiner Melancholie. Denn ich sei körperlich und geistig durchaus bei Kräften und das sei viel – eigentlich schon alles, was man verlangen könne. Eine Nachbarin der Prophetin hält diese Einstellung für minimalistisch. Vielleicht hat sie recht.
Jedenfalls soll die Lesung gleich beginnen. Ich schaue mich um nach etwas Trinkbarem, schlängele mich durch die plaudernden Lyrikfreunde zu der umlagerten Bar im hinteren Teil des Raumes und lasse mir einen Cappuccino geben.
Dann geschieht etwas, wofür ich die wirklich treffenden Worte nicht finde. Ich wende meine Augen in den vorderen Teil des Raumes, aus meiner Perspektive nunmehr rechts neben dem Eingang – einfach so – und falle mitten in einen mich völlig überraschenden Blick hinein, in einen Blick mit einem für mich völlig überraschenden Lächeln. Ein Blick, ein Lächeln nur für mich. Darauf bin ich überhaupt nicht vorbereitet. Damit habe ich in keiner Weise gerechnet. Ich lächle zurück, über die Gäste hinweg, die immer noch eifrig plaudern.
In diesem Augenblick ist allerdings niemand da. Es ist auch niemand zu hören. Es ist ganz still. Da stehe ich an der Bar. Dort sitzt sie am Fenster. Sie blickt mich an – und lächelt. Ich lächle zurück. Sonst ist – nichts.
Dann nehme ich meinen Cappuccino, balanciere ihn durch das Café und setze mich ihr gegenüber an den schmalen Tisch. Die Lesung beginnt. Ich würde gerne ein Gedicht formulieren. Darüber muss ich noch nachdenken.